``Geliebte Feinde``: Neues Buch des Stadtarchivs über Würzburg im ``Dritten Reich``


"Geliebte Feinde": Neues Buch des Stadtarchivs über Würzburg im *Dritten Reich“

Als Publikation des Stadtarchivs Würzburg ist das Buch *Geliebte
Feinde. Ein Mädchen erlebt das *Dritte Reich’ in Würzburg“
erschienen. Es enthält Tagebuchaufzeichnungen, in denen der Alltag im
nationalsozialistischen Würzburg mit kritischem Blick geschildert wird.
Autorin der ursprünglich auf Englisch verfassten Aufzeichnungen ist
Ortrun Koerber, die heute Ortrun Scheumann heißt und 90-jährig in Bad
Dürkheim lebt. Der Historiker und Main-Post-Redakteur Dr. Roland
Flade hat den Text übersetzt und mit Erläuterungen versehen.
In seinem Vorwort schreibt Kulturreferent Muchtar Al Ghusain, durch das
Tagebuch *öffnet sich ein Fenster in die Vergangenheit, durch das
Einblicke in das tägliche Leben * und Überleben * in den Jahren
zwischen 1939 und 1945 in Würzburg möglich werden“.
Als die 14-jährige Ortrun im April 1939 nach Würzburg kam, hatte sie
keinerlei Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Wie ein Wesen von
einem fremden Stern sollte sie in einem unbekannten Land mit einer
totalitären Ideologie Wurzeln schlagen.
Ortrun war in Japan aufgewachsen, wo ihr Vater Deutsch an der
Universität unterrichtete, und hatte mit der Familie Russland, China,
die USA und viele andere Länder bereist. Sie hatte amerikanische,
englische und russische Freunde, liebte die Musik des aus Polen
stammenden Frédéric Chopin und schrieb Gedichte in englischer Sprache.
Dieses Mädchen wurde nun in das enge Korsett des Bund Deutscher Mädel
gepresst und sollte zu einem willfährigen Rädchen im System der
NS-Diktatur werden - sie widersetzte sich.
Die Verweigerung war nicht ungefährlich. Die freiheitlich denkende
Familie, in der Solidarität kein Fremdwort war, geriet ins Visier der
Gestapo. Als Ortrun wegen ihrer Liebe zu einem italienischen
Kriegsgefangenen Schwierigkeiten bekam, setzt sich die Mutter für sie
ein. In der Familie und bei ihren Freunden, allesamt Nazigegnern, lebte
ein Stück Menschlichkeit in einer unmenschlichen Zeit.
Ortrun Koerbers Aufzeichnungen belegen, was sogar ein junger Mensch
über die Wirklichkeit des *Dritten Reiches“ wissen konnte, wenn er
nur wissen wollte. So schrieb sie am 10. Dezember 1942, als die meisten
Würzburger Juden bereits deportiert und ermordet waren: *Seit einiger
Zeit sehe ich keine Juden mehr in den Straßen. Ich hatte keine Ahnung,
wohin sie alle gekommen waren und war schrecklich schockiert, als ich
hörte, dass alle Juden, die in Deutschland leben, nach Polen
geschickt wurden, wo sie mit Tausenden von polnischen Juden * Männern,
Frauen und Kindern * getötet werden sollen! Ich dachte nicht, dass
sogar die Nazis so etwas tun könnten.“
Das Buch ist mit zahlreichen Fotos illustriert; darunter sind erstmals
veröffentlichte Farbfotos des unzerstörten Würzburg aus dem Bestand des
Sammlers Alexander Kraus.




Ortrun Scheumann, Geliebte Feinde. Ein Mädchen erlebt das *Dritte
Reich“ in Würzburg, herausgegeben und übersetzt von Roland Flade
(Sonderveröffentlichungen des Stadtarchivs Würzburg, Band 9), Würzburg
(Verlag Ferdinand Schöningh) 2015, 116 Seiten, zahlreiche Schwarzweiß-
und Farbfotos, 12,90 Euro. ISBN 978-3-87717-866-0







Fotos:

Abiturfoto der 19-jährigen Ortrun.

Die Domstraße im Jahr 1943. Das Foto stammt aus der Sammlung von
Alexander Kraus.

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