Weihnachten bei uns war immer ein Balanceakt zwischen Vorfreude und nackter Angst. Schon Wochen vorher spürten wir, dass der heilige Tag naht – nicht wegen der wohligen Vorfreude, nein, sondern weil die Mutter mit Staubsauger und Wischmopp durch die Wohnung tobte wie ein aufgeregter Wirbelwind. Weihnachten bedeutete bei uns in erster Linie eines: Sauberkeit. Die Art von Sauberkeit, die dazu führt, dass selbst der Nikolaus Angst hätte, dreckige Stiefel zu hinterlassen.
Am schlimmsten war der 24. Dezember selbst. Heiligabend. Der Name ist irreführend, denn heilig war daran wenig, und abendlich wurde es nur, wenn wir endlich von der großen Putzaktion erlöst waren. Immer, ja wirklich jedes Jahr, begann der Tag mit einem Streit, der sich nahtlos in den Großputz über das ganze Haus hinweg verwandelte. Ein besonders wichtiger Punkt auf der To-Do-Liste meiner Mutter: das Treppenhaus. Jedes Jahr wurde es geschrubbt, bis man seinen eigenen Ausdruck der Verzweiflung darin spiegeln konnte. Doch jedes Jahr, wirklich jedes, hatten unsere Mieter scheinbar eine andere Vorstellung davon, was ein blitzeblankes Treppenhaus bedeutete. Und so gab es Stunk – lauten, bitteren Stunk, der uns Kinder in die Flucht schlug.
Unsere Zufluchtsorte waren unsere Zimmer. Dort verbarrikadierten wir uns, bis wir hörten, dass unsere Namen gerufen wurden. Ein bisschen wie das Gegenteil von Weihnachten bei Harry Potter: Kein Festessen, kein Hogwarts, sondern das Weihnachtsdinner in der Küche und dann wieder Kinderzimmer. Und plötzlich, als ob die dunklen Wolken der Unordnung und der Konflikte mit einem Schlag verflogen wären, erklang der Satz, auf den wir gewartet hatten: "Das Christkind war da!"
Der alte Plattenspieler wurde ausgepackt und quälte sich die letzten Atemzüge durch unsere Weihnachtsplatten, bis man glaubte, es sei ein besonders trauriges Rentier, das dort im Wohnzimmer verendet. Dann endlich die Bescherung: Alle mussten gut gelaunt sein, ob es passte oder nicht. Fröhliche Gesichter, freudestrahlende Kinderaugen, die ihre neuen Geschenke auspackten. Die letzten Fetzen Papier flogen, und plötzlich waren wir so etwas wie eine richtige Familie. Die Weihnachtslieder wurden mit gegrummelt, und obwohl der Plattenspieler wie ein sterbender Wal klang, sangen wir mit und taten so, als sei das Chaos vom Vormittag niemals geschehen.
Die Kirche war irgendwann auch kein Thema mehr. Früher gingen wir jedes Jahr brav zum späten Gottesdienst, doch das änderte sich, als der Pfarrer eines Tages beschloss, dass wir keine richtigen Christen seien. Warum? Weil wir es nicht schafften, Geld für eine neue Orgel zu spenden. Mein Vater war damals sichtlich empört – immerhin hatte er als junger Mann unermüdlich für die Kirche gearbeitet, und der Bischof hatte bei uns zu Hause schon Kaffee getrunken! Da saß er auf Fotos, mit mir als kleinem Kind auf dem Schoß, in unserem Wohnzimmer! Aber gut, das Kapitel Kirche war abgeschlossen, und so bestand der Rest unseres Heiligabends aus Fernsehen bis zum Umfallen.
Die Feiertage danach? Ein buntes Gemisch aus gutem Essen, ein bisschen familiärem Stress und einer großen Portion Langeweile. Wir Kinder zählten die Minuten, bis wieder Normalität einkehren würde, denn diese festliche Mischung aus geblecktem Frieden und der ständigen Bedrohung eines neuen Streits war irgendwie doch anstrengender als Schule und Alltag. Und doch – wenn ich heute zurückdenke, dann waren das unsere Weihnachten. Unperfekt, chaotisch, stressig. Und irgendwo darin versteckt auch bis zu einem gewissen Grad wunderschön.
Sandra Bernadett Grätsch
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