Misereor-Fastenaktion 2016: Einblicke in das Beispielland Brasilien Menschenwürdig leben dürfen


Unterfränkische Delegation besucht brasilianische Millionenstadt São Paulo –
Leben zwischen Müll und Altkleidern im „Loch des Gürteltiers“–
Menschenrechtszentrum „Gaspar Garcia“ unterstützt Hausbesetzer
São Paulo/Würzburg (POW) São Paulo in Brasilien ist ein Moloch mit rund zwölf Millionen Einwohnern
im Stadtgebiet, über 20 Millionen im Großraum, eine der größten Metropolen der Welt. Sie verschlingt
ihre Kinder zwischen Hochhausschluchten und unter Wellblechdächern. Mehr als zwei Millionen
Bewohner São Paulos leben auf der Straße, in besetzten Häusern oder in riesigen Armenvierteln, den
sogenannten „Favelas“. Die unmenschlichen Verhältnisse sind Gründe, warum das Hilfswerk Misereor
bei seiner diesjährigen Fastenaktion unter dem Motto „Das Recht ströme wie Wasser“ den Blick unter
anderem auf das größte Ballungsgebiet Südamerikas richtet. Eine Delegation aus Würzburg hat sich auf
Einladung des Hilfswerks Misereor in Zusammenarbeit mit dem Bistum Würzburg im Vorfeld aufgemacht,
die Brennpunkte São Paulos zu besuchen – und die Menschen, die sich dort mit Leidenschaft für andere
einsetzen.
„Den Namen für unsere Gegend hat mein Bruder erfunden: das Loch des Gürteltiers. Die graben gerne
Löcher. Und in so einem Loch sind wir hier“, erklärt Adelida da Silva. Seit sechs Jahren wohnt sie direkt
am offenen Abwasserkanal. Es riecht streng. Berge von Müll und Altkleidern säumen das trübe
Gewässer. Früher habe sie selbst darin gestanden und den Müll beseitigt. „Mein Mann verbietet mir
heute das Aufräumen wegen der Bakterien, und den meisten anderen ist es egal“, erklärt sie resigniert.
Die 46-Jährige lässt kein gutes Haar an der Stadtverwaltung. Sie zahle Abwassergebühren, aber die
Kloake fließt als breiter Bach mitten durch ihr Viertel. Der Müll häufe sich, weil keine Müllabfuhr zu ihnen
herunterkäme. „Ich habe mich engagiert, habe versucht, die Menschen hier zu bewegen, doch sie haben
mich ‚Bürgermeisterin’ geschimpft. Dann habe ich aufgegeben.“
Da Silva lebt mit ihrem Mann und vier Kindern im zweiten Stock eines Backsteinbaus am Kanal. Davor
waren sie Mieter im Erdgeschoss. Für etwa 5000 Euro konnten sie ihre eigene Etage aufstocken, rund
20 Quadratmeter mit Loggia. Mittlerweile habe die Familie kein Geld mehr. Alle seien arbeitslos, nur
Adelida verdiene etwas am Markt mit selbst hergestellten Häkelwaren. Die wenigen Real gebe sie gerne
für fließend Wasser aus – denn immerhin das hat samt Zähler auch ihr Haus erreicht. Das Viertel, in dem
da Silva lebt, heißt Juta und liegt im Distrikt Sapopemba mit rund 380.000 Einwohnern. Einst
abgeschieden und heute eine Favela inmitten der Stadt mit zwei Gesichtern: der höher liegende
etablierte Teil, dessen Häuser in bunten Farben leuchten, und das „buraco de tatu“, das Loch. Beide
wachsen jenseits jeglicher Bauvorschriften, aber unter sehr unterschiedlichen Bedingungen unaufhaltsam
weiter.
Maria und José Morera haben die 70 längst überschritten und leben seit 42 Jahren nur wenige Minuten
von da Silva entfernt – auf dem Hügel. Ihr Haus hat eine weiß geflieste Einfahrt und zwei Stockwerke mit
genügend Zimmern für eine der Töchter, den Enkel und das Ehepaar selbst. Anfangs war es nur ein
kleines Schlafzimmer mit der Küche im Nebenraum. Sie haben erlebt, wie aus der ländlichen Gegend
außerhalb der Metropole ein Stadtteil wurde. Seit 15 Jahren haben sie fließendes Wasser, etwas später
kam die Asphaltstraße. „Es gab nichts hier, keine Häuser, keine Straßen. Und erst in den 1980er Jahren
war unser Kampf erfolgreich.“ Mit Hilfe der Kirche sei es den Bewohnern gelungen, die Grundstücke und
Häuser zu legalisieren und Schritt für Schritt an die Infrastruktur der Metropole angebunden zu werden.
Städte wie São Paulo wuchern wie Krebsgeschwüre. Eine Stadtverwaltung kann damit kaum Schritt
halten. Die Kirche und von ihr unterstützte Hilfsprojekte sind darum entscheidende Begleiter. Ein
Projektpartner von Misereor ist das Menschenrechtszentrum „Gaspar Garcia“ (CGG). Ein Schwerpunkt ist
die Unterstützung von Hausbesetzern. Auf einem Quadratkilometer leben in der Megastadt
7300 Menschen, in München sind es nur rund 4500. Wo Wohnraum so kostbar ist, wird damit spekuliert.
290.000 leer stehenden Wohneinheiten stehen Menschen gegenüber, die verzweifelt nach einem
bezahlbaren Zuhause suchen. Doch wenn die Suche erfolglos bleibt, ist der Ausweg illegal: Haus- und
Grundstücksbesetzung gehören zum Alltag. „Wir wollen den Menschen helfen, sich zu organisieren“,
beschreibt Luiz Kohara, zweiter Leiter des CGG und seit Gründung des Zentrums dabei. Die Einrichtung
zeigt Hausbesetzern, wie sie in Gemeinschaft eine politische Macht darstellen, gibt Rechtsberatung und
psychosoziale Betreuung.
Wie erfolgreich die Arbeit für die Wohnungssuchenden sein kann, zeigt ein Beispiel, das 2014 ein
erfolgreiches Ende genommen hat. Ein Hochhaus, das von 84 Familien bewohnt wurde, ist heute sichere
Heimat für 42 von ihnen und kollektives Eigentum. Die restlichen Familien wurden in anderen Häusern
untergebracht. Rechtsanwältin Juliana Avanei ist Mitarbeiterin des CGG und beschreibt den über
13 Jahre andauernden Rechtsstreit: Nachdem sich das Besitzer-Ehepaar getrennt hatte, hätte sich
niemand mehr um den einst gemeinsamen Besitz gekümmert – und auch keine Grundsteuer bezahlt. Aus
der Scheu vor der Nachzahlung sei die Chance für die Hausbesetzer entstanden. Denn wer in Brasilien
längere Zeit ein Grundstück oder Gebäude genutzt habe, erwerbe sich ein Anrecht auf dessen Besitz.
Johannes Schenkel (Internetredaktion)

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