Ach, die schönen Erinnerungen an die Kindheit! Eine Zeit, in der es keine Regeln gab, keine Vorschriften, keine Fahrradhelme. Man konnte sich noch unbeschwert in den Ruinen ehemaliger Brauereien austoben, während riesige Ratten um einen herumliefen, als hätten sie gerade ihre wöchentliche Kaffeerunde im Pfarrhof beendet. Ja, so war es im alten Pfarrhaus, wo der Geruch von Torf und die Angst vor plötzlichem Herzstillstand quasi zur Grundausstattung gehörten.
Wir hatten damals einen Abstellraum, der uns allen Angst machte. Kein Wunder, denn er sah aus wie eine Mischung aus einem Horrorkabinett und einer schlecht belüfteten Tropfsteinhöhle. Es war der Fahrradraum, der bei uns Kindern Respekt einflößte. Die Wände bestanden aus dicken Mauern, und der Zwischenraum dazwischen war mit Torf gefüllt. Warum? Keiner wusste es. Vielleicht dachte man damals: "Oh, lass uns mal ein wenig Torf in die Wände stopfen, dann wird's sicher nicht langweilig!" Und langweilig wurde es tatsächlich nicht – zumindest nicht, wenn man eine Phobie vor pelzigen Riesenratten mit ausgesprochen langem Schwanz hatte.
Die Ratten machten diesen Raum zu ihrem Wohnzimmer. Sonntags drehten sie eine gemütliche Runde durch den Pfarrhof, als wären sie auf einem Sonntagsausflug. Der Pfarrer jedoch war ein Mann der Tat. Mit seinem Luftgewehr stand er auf der Lauer, bereit, die pelzigen Gesellen zur Strecke zu bringen. Die Ratten allerdings waren weder beeindruckt noch verschreckt. Wahrscheinlich hielten sie die ganze Aktion für eine besonders schrullige Show. "Schau mal, Herbert! Der Mensch mit der Knarre spielt wieder Cowboy."
Nun, ich musste jedenfalls mein Fahrrad dort abstellen. Meine Mutter bestand darauf. Im Abstellraum. In der Dunkelheit. Zwischen den raschelnden Ratten und dem Chaos aus Kisten, Fahrrädern und all dem Zeug, das Eltern nie wegwerfen können. Es war ein Erlebnis, das für uns Kinder einen gewissen Abenteuerwert hatte, weil man nie wusste, ob man lebendig wieder herauskam.
Eines Tages – der Himmel war grau und die Stimmung entsprechend trüb – schob ich, einem Todesmutigen gleich, mein Fahrrad in diesen Raum. Kaum hatte ich zwei Schritte gemacht, stolperte ich über etwas Großes und Hartes. Ich fiel zu Boden, richtete mich mühsam auf und blickte direkt in zwei Augen. Menschliche Augen. Das Herz rutschte mir in die Hose, und in meinem Kopf begann sich eine wilde Panik-Symphonie zu entfalten. Ich sprang auf und rannte aus dem Raum, als wären die Ratten plötzlich hinter mir her. Ich schrie nach meiner Mutter, die im Waschkeller gerade die Wäsche kochte (die Wäschekochkultur – ein ganz eigenes Kapitel), und erzählte ihr von dem Toten im Fahrradraum.
Ja, da lag tatsächlich ein Mann. Wie sich herausstellte, war er ein alter Herr, der sich mit einem letzten Spaziergang in den Abstellraum verabschiedet hatte. Ein Herzinfarkt hieß es später. Dort lag er dann, umgeben von den Relikten unserer Kindheit, als wäre er ein besonderes Artefakt im Museum des Absurden.
Wenn ich heute daran denke, dass wir in Bomben zerstörten Kellern spielten, auf Zügen herumturnten und Fahrräder über Leichen hinwegschoben – tja, da würden heutige Eltern vermutlich kollektiv die Nerven verlieren. Aber wir? Wir wuchsen auf, umgeben von Ratten, Torf und toten Körpern. Und schauten einfach zu, wie die Schleuder in der Waschküche durch den Raum tanzte, als wäre sie das letzte Rodeopferd im Staub der Nachkriegsjahre.
Die Kindheit war wirklich eine sorglose Zeit. Zumindest, solange man über die Leichen stolperte, bevor sie allzu sehr zu riechen begannen.
Dieser Text ist ein Auszug aus meinem Buch "Kindheit zwischen Ruinen und Ratten – Eine Reise in die Absurditäten der Nachkriegsjahre". In diesem Buch erzähle ich von den Erlebnissen und Abenteuern meiner Kindheit, von dunklen Abstellräumen, bombenzerstörten Kellern und der unbeschwerten Freiheit in einer Welt voller Gefahren. Es ist eine Sammlung von Geschichten, die das Gefühl dieser Zeit einfangen – humorvoll, düster, und manchmal fast unglaublich. Ein Blick auf eine Kindheit, die heute kaum vorstellbar wäre, aber voller Momente, die uns geprägt haben.
Sandra Bernadett Grätsch
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